Economics 101: Was ist das BIP und wofür brauchen wir das?

Zum Jahreswechsel werden ja gern mal Wachstumsprognosen veröffentlicht. Den Anfang machen hier in Deutschland die Gemeinschaftsprognose der Wirtschaftsforschungsinstitute, es folgt das Jahresgutachten des Sachverständigenrates. Aus beiden durchaus dicken Publikationen wird medial oft fast nur die Erwartung über das BIP-Wachstum verwertet. Jüngst retweetete ich eine Grafik der Wachstumsraten für 2018 im internationalen Vergleich vom economist. Auch hier ein starker Fokus auf das BIP.

Die Frage folgt dann oft auf dem Fuße und bietet sich ja auch an: Warum ist denn BIP-Wachstum wichtig.

Nun. Diese Frage ist gewissermaßen eine Glaubensfrage und ich werde die verschiedenen Glaubensrichtungen vielleicht mal bei Gelegenheit aufdröseln. Aber vor die kritische Auseinandersetzung gehört das Handwerkszeug. Deshalb erstmal: was ist das BIP, wofür ist das gut, was wächst da überhaupt und wer hat da was von?

Beginnen wir mit der Definition: Das Bruttoinlandsprodukt misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die auf dem Gebiet eines Landes im Bemessungszeitraum produziert wurden.

Klingt einfach? Der Teufel steckt im Detail.

Bei der Erhebung des Wertes aller produzierten Güter und Dienstleistungen darf nämlich nichts doppelt gezählt werden. Wenn also ein Vorprodukt in den Wert eines Endproduktes eingeht würde es zweimal gerechnet. Um diesem Problem Rechnung zu tragen, wird das BIP auf vier verschiedene Weisen erhoben:

1. Als Wert aller zum Endverbrauch produzierten Waren

2. Als Wert der auf allen Produktionsstufen geschaffenen Mehrwerte

3. Als Summe der in der Produktion ausgeschütteten Einkommen

4. Als Summe aller verschiedenen Nachfragekomponenten

Theoretisch müssen all diese Berechnungen zum gleichen Ergebnis führen, denn:

In der Praxis gibt es zwischen den Erhebungsarten natürlich erhebliche Abweichungen, denn die verschiedenen Statistiken werden an vollkommen unterschiedlichen Stellen erhoben und sind überhaupt nicht konsistent.

Nun haben wir damit bisher nur das sog. nominale BIP, also der Wert der produzierten Güter. Wachstumsabschätzungen auf Basis dieses Maßes sind insofern nicht sehr gehaltvoll, da der Wert der produzierten Güter steigen kann durch a) eine Erhöhung der Menge oder b) eine Erhöhung der Preise. Daher wird zudem das reale BIP berechnet, das um die Preisentwicklung bereinigt wird. Auf Basis dieses Maßes kann dann eine Abschätzung gemacht werden, ob eine Volkswirtschaft im Bemessungszeitraum mehr produziert hat als im Referenzzeitraum. Hat eine Volkswirtschaft bei gleichem Einsatz von Arbeit und Kapital mehr produziert, so ist sie produktiver geworden.

Um einen Vergleich über Länder oder auch über die Zeit mit einem längeren Horizont anstellen zu können, wird das BIP außerdem i.d.R. in Pro-Kopf-Zahlen umgerechnet. Denn natürlich macht es wenig Sinn zu vergleichen, ob die Handvoll Einwohner von San Marino genauso viel produziert haben, wie die über 80 Millionen Deutschen.*

Ja und warum wollen wir das wissen?

Das Bruttoinlandsprodukt wird heute oft als Wohlfahrtsmaß interpretiert und als zentrale politische Zielgröße verstanden. Betrachtet man seine Geschichte, ist die Verwendung dieses Maßes eher der beschränkten Datenverfügbarkeit und dem Mangel an messbaren Alternativen geschuldet. Die ökonomischen Vorreiter der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung waren eigentlich an einem Maß für das Volkseinkommen interessiert. Dieses hätte, so der (etwas zu kurz gegriffene) Gedanke, die Wohlfahrt des Landes abgebildet. Allerdings gab es hier große Hürden. Für ein aggregiertes Einkommensmaß hätten die Unternehmer die Arbeitslöhne und Arbeitsstunden, sowie ihren eigenen Kapitalertrag an eine statistische Erfassungsstelle melden müssen. Das wollten diese nicht, aus Sorge, das könne die Gewerkschaften auf den Plan rufen. Das Erfragen des Produktionswertes bot weniger politischen Zündstoff. Und enthielt ja – siehe oben – die gewünschte Information mit.

Während Ökonomen ein Wohlfahrtsmaß im Sinn hatten, ging es Politikern bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung um eine zuverlässige Abschätzung der Steuerbasis. Nicht umsonst steht die Etablierung der statistischen Erfassung der wirtschaftlichen Leistung in Großbritannien und den USA im zeitlichen Zusammenhang mit der Beteiligung an Kriegen und diente damit zur Abschätzung der mobilisierbaren Mittel zur Kriegsfinanzierung. Immernoch stellt die Prognose des BIP eine wesentliche Komponente der Steuerschätzung dar.

In Deutschland wurde die Erfassung des Bruttoinlandsprodukts im Rahmen des Marshall Plans eingeführt, um ein Erfolgsmaß für den Plan zu haben. Auf dieser historischen Bedeutung als Finanzierbarkeitsmaß bzw. Erfolgsmaß fußt auch die heutige Verwendung des BIP als eine der wirtschaftspolitischen Zielgrößen. Längst sind jedoch weitere hinzugekommen: Arbeitslosigkeit, Inflation, Staatsverschuldung, Rentenniveau, Nettoexporte, Geldwertstabilität – um nur einige zu nennen. Die Politik ist, auch wenn es medial oft so klingt, nicht allein auf das BIP konzentriert. Zumal das BIP nicht direkt politisch beeinflussbar ist und auch indirekt andere Zielgrößen sehr viel eher politisch zu managen sind.

Als Wohlstandsmaß hat das BIP durchaus seine Schwächen. Es beinhaltet keinerlei Aussage über die Verteilung/Gerechtigkeit. Auch korreliert es zwar mit der Zufriedenheit, aber nicht 1:1.** Selbst wenn nur die finanzielle Situation eines Landes über die Wohlfahrt entscheiden würde, was nachweislich nicht so ist, so fehlen dem BIP gerade auch langfristigere Aspekte wie die Vermögensentwicklung, das Niveau der sozialen Sicherung, die Nachhaltigkeit mit der dieses Produktionsniveau aufrecht erhalten werden könnte.

Auch als Maß für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes ist das BIP umstritten. So geht vieles, was durchaus einen Wert für die Wohlfahrt hat nicht in das BIP ein, alles nämlich, was umsonst bereitgestellt wird – Care Arbeit, Ehrenamt, kostenlose Dienstleistungen. Gerade für Entwicklungsländer ist das Maß unperfekt, weil dort das Ausmaß der Subsistenzwirtschaft hoch ist und diese, wie alle Teile der Schattenwirtschaft, nicht mit erfasst wird (das gleiche Problem weisen in diesen Ländern auch die Arbeitslosen-Statistiken auf). Dies bedeutet, dass das BIP schlecht dazu geeignet ist, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes zu messen, es misst genau genommen nur die durch Steuern und Abgaben erreichbaren Teile der wirtschaftlichen Leistung. Denn was nicht bezahlt wird, wird auch nicht besteuert.

Trotz dieser Schwächen ist das Bruttoinlandsprodukt als Maß wichtig. Einerseits weil es umfassend ist, andererseits weil wir kein besseres haben, das sich trivial erheben ließe (nicht dass die BIP-Erhebung wirklich in der Praxis trivial wäre, aber sie ist zumindest möglich). Und vor allem, weil es international und über die Zeit vergleichbar ist. Niemand behauptet, das BIP sollte die einzige Zielgröße sein, es ist hierzu weder gedacht noch geeignet. Aber ohne die Erhebung des BIP stünde der Staat auch ohne Planungsmöglichkeiten dar – das genügt vermutlich schon als Legitimation.

 

*Dies übrigens eine der Schwächen des zugehörigen Wikipedia-Artikels, den ich hier aus gutem Grund nicht verlinke, weil er wirklich extrem unsauber und wenig neutral geschrieben ist, hier findet sich eine Grafik die die Länder nach dem BIP vergleicht: Und huch, Überraschung, die USA produzieren ja viel mehr als Luxemburg, WER HÄTTE DAS GEDACHT?!

** Wikipedia-Artikel-Schwäche Nr. 2: Niemand behauptet, das BIP diene der Wohlfahrtsmessung, dennoch zählt der Artikel unter ‚Alternative Maße‘ drölfzig Maße auf, die versuchen Wohlfahrt zu messen sowie einige, die versuchen, die Funktionalität von Staaten zu messen.

 

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