Wissenschaftstwitterexit – eine Utopie.

Ich habe seit Monaten keinen längeren Text mehr geschrieben. Nach dem Brotjob und der Aufnahme all der Krisenmeldungen und Katastrophenfitzel reichten abends oder am Wochenende die Worte mit Glück noch für den Podcast aber sicher nicht auch noch für das Blog. Und, wie vielen anderen, schien mir auch irgendwie, dass alles was es zu sagen und schreiben geben würde schon gesagt und geschrieben wird, nur niemand es hört. Doch diese Woche ist in mehrerer Dimension so einzigartig, dass sie selbst in mir den Wunsch hervorkitzelt, etwas dazu zu sagen, das mehr als 350 Zeichen lang ist.

Zunächst bekam ich Corona. Es läuft reasonably okay nur zieht sich sehr lang. Die Möglichkeit die Zeit z.B. zum nähen zu nutzen ist eingeschränkt, weil wir das nicht infizierte kleine Kind abschirmen und ich deshalb sehr viel Zeit im Schlafzimmer verbringe. Da kann man schonmal bisschen mehr als sonst, noch mehr, im Internet herumlesen. Und dann begab es sich, was länger schon viele ahnten, Elon Musk hat Twitter nicht nur gekauft, sondern auch mit einem derart rasanten Tempo in vollständiges Chaos gestürzt, dass man es kaum fassen kann.

Ich teile durchaus die Meinung, dass das Ganze nicht Unfähigkeit oder Naivität von Musk sondern evtl. eine riesengroße wohlgeplante Trollaktion sein kann, hält es doch so richtig alle prima beschäftigt gerade. Selbst die Tagesschau berichtet. Aber ich will mich hier nicht an Spekulationen beteiligen und am Ende ist es mir auch egal. Denn so richtig cool war es auf Twitter für viele ja schon seit einiger Zeit nicht mehr. Ich habe schon Teile meines Internets aufgeben müssen durch Geschäftsentscheidungen von Facebook und von Blogger und Fehlinterpretationen der DSGVO durch viele private kleine Blogs. Zum Glück habe ich gelernt, dass das was mir wertvoll ist, mir in der Regel bleibt. Ich hänge auch zum Glück nicht existenziell von meiner Twitter-Reichweite ab, so dass ich mich zurücklehnen und abwarten wollte.

Da ich aber ja gerade Zeit hab, weil siehe oben, und weil ich eigentlich nicht mehr meine Gedanken einer Plattform schenken möchte, die ihr human rights und Accessibility Team feuert, hab ich dann doch letzte Woche beschlossen, einfach mal reinzugucken in Mastodon. Ganz persönlich und privat finde ich es da sehr schön. Ich mag den Gedanken der Dezentralität und des Gemeinwesens sehr. Ich hoffe sehr, dass sich diese sehr guten Ideen über den Zufluss von Usern hinweg retten können. Mir kommt da recht zwangsläufig das Allmendeproblem (Link innerhalb des Blogs) in den Sinn und ich hoffe sehr, dass Mastodon nicht der Tragedy of the Commons erliegt. Ich hab ein paar Gedanken, wie das gelingen könnte, dazu unten mehr.

Wenig überraschend gibt es viele geschätzte und wohlüberlegt zusammengefolgte Accounts, die das ähnlich sehen, so dass diese Woche ein Twitterexodus sondergleichen einsetzte, der sicher für die bereits alteingesessenen Bewohner der Fediverse aber auch für alle Instanz-Admins ziemlich erschreckend bis tsunamiartig (externer Link) gewesen sein muss. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die in Mastodon exakt ein neues Twitter suchen und grundsätzlich bin ich stark dafür, dass wir alle respektieren, wie das Fediverse gedacht ist. Allerdings werden recht zwangsläufig jetzt ganz neue Dinge entstehen und wachsen müssen und ich betrachte die Migration insbesondere der Wissenschaftsbubble mit großer Neugier und auch einer länger nicht gefühlten Art von Community-Freude.

Neben Handarbeitsbubble und Podcasthörerinnenschaft bietet Twitter mir ganz wesentlich den Zugang zu und Einblick in Wissenschaftler*innennetzwerke auch jenseits meines eigenen Faches und nach meiner eigenen aktiven Zeit als Wissenschaftlerin weiterhin. Gerade durch die Pandemie ist Twitter ein wesentliches Werkzeug der Wissenschaftskommunikation geworden und stellt aus meiner Sicht auch den „kurzen Dienstweg“ zwischen Wissenschaft und Journalismus dar. Das ganze aber natürlich nicht ohne Stolpersteine. Wissenschaftskommunikation über Twitter ist extrem mühsam und zeitaufwändig, wird i.d.R. kaum bis gar nicht als Wissenschaftsleistung anerkannt und erfordert hohe Resilienz. Denn quasi gleichwertig neben vielen wirklich brillanten und gut kommunizierenden Wissenschaftler*innen finden sich immer auch mindestens ebensoviele, wenn nicht weit mehr, Scheinexpert*innen, die gleichberechtigt und oft mit mehr Zeit und Lautstärke ihren kompletten Nonsense bis gefährlichen Unfug in die Welt blasen. Und im Wesentlichen sind es die Wissenschaftscommunities auf Twitter (und deutlich zu selten die zuständigen Fachjournalist*innen), denen dann irgendwie auch noch der Job zukommt, diesen ganzen Kram dann zu debunken und dafür noch persönlichen und oft massiven Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Das ganze wird munter verstärkt indem reichweitenstarke Medien bothsideism betreiben und diese Scheinexperten auch noch zur besten Sendezeit ins Fernsehen einladen. Dennoch bleibt Social Media ein wichtiges Instrument um wissenschaftliche Erkenntnisse breit und konstruktiv zu diskutieren und aus Fachbubbles hinaus zu tragen. Wer in den großen Fragen unserer Zeit als Wissenschaftler*in einen Hebel haben will, kommt nicht ohne Social Media aus.

Und nun Auftritt Twitter-Exodus. Ich fragte mich also, als ich so gemütlich begann meine Wohnung in Mastodon einzurichten, ob mir dieser barrierearme Zugang zu all dem großartigen und top aktuellen Wissen der Welt wohl erhalten bleiben würde. Ob es nicht in Musk-Twitter in Kürze unkonsumierbar sein würde. Ob Wissenschaftler*innen nicht dann in Scharen endgültig reißaus nehmen würden, wenn es nicht mal mehr das lausige bisschen Moderation geben würde, das Twitter bisher leistete. Ein wenig war es auch schön als ich nur wenigen Menschen auf Mastodon folgte und es für kurze Zeit für mich ein Ort ohne Krisen, Probleme und Leid war. Aber gut, das Leben ist, gerade im Moment, kein Ponyhof. Nur für Krisen und Probleme bei Twitter sein und ansonsten in einem schönen Kämmerchen Rückzug ins Private machen liegt mir nicht. Also kam ich ins Grübeln, ob nicht auch Wissenschaftsmastodon ein besserer Ort werden könnte als Wissenschaftstwitter es je war, dank der großartigen Anschubleistung von Elon Musk. Und ich glaube ja. Ich glaube eine Science-Bubble im Fediverse ist genau das, was wir brauchen um den gesellschaftlichen Diskurs über wissenschaftliche Erkenntnisse besser zu machen. Und sie kann auch für die Wissenschaft selbst sowie für Academia als Berufszweig eine riesige Bereicherung sein. Voll Freude beobachtete ich also, wie eine econtwitter-Instanz aufploppte. Wie ein fediscience.org Server erschien. Und wie sich meine Timeline nebenher ganz von allein mit Ökonom*innen füllte, die ich bisher auf Twitter noch nicht kannte, vernetzt mit verwandten Gebieten wie Political Science, Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftsgeschichte. Denn während es mir für z.B. die Infosec-Community irgendwie nativ und naheliegend vorkam, dass eine Verlagerung ins Fediverse eher schnell geschehen würde und man sich mit dem Grundgedanken gut würde arrangieren können, gilt das ja nicht für alle Disziplinen.

Wissenschaft ist tief durchdrungen von Verwertungslogik und hoch konzentriert auf reichweitenstarke mächtige Verlage. Zwar kämpfen breite Teile von Academia seit Jahren einen Kampf für Open Science, aber dennoch ist das Ganze eher zäh. Und da Messbarkeit, Indizes und Kriterien, Publikationsrankings und Abrufe enorm wichtige Währungen in der Wissenschaft sind, liegt es nahe, sich nicht leicht aus einem von Corporate-Logik getriebenen Umfeld wie Twitter zu lösen und seinen Mess- und Reichweitenlogiken eher hinterher zu trauern als sie ändern zu wollen. Und dennoch. Wir sehen es gerade passieren. Auch die Wissenschaftler*innen migrieren in Scharen zu Mastodon und viele machen das durchdachter als ich erwartet hätte.

Und dennoch, ich finde, man könnte das als noch größere Chance begreifen und umsetzen. Denn was es jetzt braucht sind Strukturen, wie Wissenschaft föderal und als Allgemeingut abgebildet werden kann. Es sollte Fach-Instanzen geben, gehostet von den Fachverbänden oder Wissenschaftsorganisationen. Diese sollten Verifikation im Eigeninteresse vorantreiben. Damit eben nicht jede*r mit zwei Stunden fragwürdiger Verschwörungstheorielektüre gleichwertig zu jemand mit Fachrenommée wahrgenommen wird, wie es auf Twitter zu oft so. Durch z.B. – ich spinne hier nur rum – eine Instanz der DFG könnten neben Verifikation auch eine Durchsetzung eines wissenschaftlichen Code of Conduct erfolgen. Wir haben ja Regeln für Wissenschaft, es gibt klare Verhaltens-, Publikationsregeln und auch Ombudsinstanzen. Warum sollte man Social Media hiervon ausnehmen, wo sich jetzt die Chance ergibt. Warum nicht der DFG-Codex als Community-Codex auf einer Wissenschaftsinstanz? Wir haben vom DFN verifizierte digitale Signaturen, warum keine Mastodon-Profile? Zudem würde, wenn professionelle Profile auf Verbands- und/oder Wissenschaftsorganisations-Instanzen liefen auch eine Entlastung der ehrenamtlichen Community des Fediverse erfolgen. Die Wissenschaftsverbände sind öffentlich finanziert und m.E. in der Pflicht, die Finanzierung des öffentlichen Gutes Wissen hier mit zu tragen. Um einer Erosion der gemeinnützigen Ressourcen vorzubeugen aber auch um einer Veruntreuung der Wissenschaftsethik entgegen zu stehen.

Und welche Möglichkeiten zur Vernetzung bieten sich gleichzeitig, wenn man eine Local Timeline des eigenen Faches hätte? Ich sehe hier auch einen großen Schub für die Bestrebungen, öffentlich geschaffenes Wissen zu vernetzen und öffentlich zugänglich zu machen sowie eine moderne Umgebung zur Wissenschaftskommunikation zu schaffen. In einer Vernetzungsumgebung ohne Verwertungslogik käme wir dem Ideal des gesellschaftlichen Nutzens öffentlich finanzierter Forschung wieder sehr viel näher und könnten gleichzeitig – vielleicht – zu einer sehr viel offeneren fachlichen Diskussionskultur kommen. Gerade auch in Bezug auf Interdisziplinarität würde das doch viele Vorteile haben, denn wenn ich mich in Austausch über Grenzen hinweg begebe, ist ein gemeinsamer Code of Conduct verbunden mit einer fachlich sichergestellten Verifikation doch eine gute Basis, um fundiert in ein anderes Fach hinein schauen und interdisziplinär auf sicherem Boden diskutieren zu können.

Ich war immer kritisch, die Verstaatlichung von Twitter zu fordern, denn wer sollte das verstehen und leisten, diesen Batzen Trolle und Bots einzuhegen und zu kontrollieren. Diese Echokammer zu verstehen und ihre Logiken zu regulieren. Und das im öffentlichen Dienst, haha, wohl eher nicht. Aber eine öffentlich-föderale Struktur, die nutzt was schon da und auch oft schon teilöffentlich finanziert ist. Das scheint mir zumindest für den Teil des Wissenschaftsnetzes ein gutes Ziel, das zu fordern sich lohnt.

Ich bin ja gerade krank und kann deshalb nicht direkt an Ort und Stelle im beruflichen Umfeld mit lobbyieren für diese Idee anfangen. Aber ich lasse euch allen, die ihr dort draußen Wissen schafft oder fördert die Gedanken mal da.

Und als Info ein paar Links, wo es schon gut anläuft:

Fediscience.org ist eine Mastodon-Instanz, die nur aktiv Forschenden einen Account ermöglicht und auf der mir vor allem aus der Klimaforschenden-Ecke schon viele aktiv zu sein scheinen.

econtwitter.net ist quasi bottom up geschaffen worden, um akademischem Econ-Twitter ein neues zuhause zu schaffen. Leitet auch um von der Adresse Economics.Social. Es gibt hier zumindest auch die Anfrage an die EEA, eine Verbands-Instanz zu schaffen. Hilfreicher Einstieg für Ökonomen ist m.E. Thiemo Fetzer (@fetzert@econtwitter.net) zu folgen.

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